18. September 2019 | Beate Müller
Friedliche Revolution 1989 - Erinnerungen an das Geschehen vor 30 Jahren
Hoffen – Bangen – Wundern in Leipzig
30 Jahre ist es her, dass die politischen Ereignisse Leipzig in Atem hielten und dass Leipzig in den deutsch-deutschen Blickpunkt rückte. Es war eine aufregender Sommer 1989. Eigentlich Urlaubs- und Reisezeit und gerade deswegen machten viele DDR-Bürger diese Zeit zur Ausreisezeit. Von Ungarn aus gab es den einzigen Weg über Österreich in den Westen.
Wir, die Urlauber im eigenen Land, verfolgten das Geschehen mit Spannung und gleichzeitiger Enttäuschung. Spannung deshalb, weil sich gesellschaftliche Veränderungen andeuteten, allerdings unklar, ob dies zur Öffnung oder zur erneuten Verschärfung der Verhältnisse führte. Enttäuschung darüber, weil wieder Freunde, Nachbarn, Gemeindemitglieder das Land verlassen wollten.
Anfang September begannen nach der Sommerpause wieder die Friedensgebete in der Nikolaikirche, seit 1982 traditionell jeden Montag um 17:00 Uhr. Es war Herbstmesse. Eine große Schar von Besuchern füllte die Kirche, ihre Anliegen waren ganz unterschiedlich. Mit „Wir wollen raus“-Rufen wollten die einen Reisefreiheit und mit „Wir bleiben hier“ forderten die anderen Reformen in der Gesellschaft ein. Auf dem Nikolaikirchhof kam es im Anschluss an das Friedensgebet zu Handgreiflichkeiten, Spruchbänder wurden von Stasileuten heruntergerissen, Teilnehmer bedroht und die Versammlung aufgelöst. Erstmals gelangten über das ZDF Bilder davon in die Westnachrichten. Der September blieb voller Anspannung. Ungarn öffnete die Grenzen zu Österreich, 10 000 DDR-Bürger nutzten das zur Ausreise. Die Montagsgebete in der Nikolaikirche blieben fester Bestandteil und Ausgangspunkt der Proteste. Die Teilnehmerzahlen in und vor der Kirche nahmen ständig zu. Nach den Friedensgebeten kam es jedes Mal zu Demonstrationsversuchen.
Dann kam der Oktober 89 mit dem 40. Jahrestag der DDR, dem Staatsfeiertag am 7. Oktober. An diesem Sonnabend kam es in der Leipziger Innenstadt zu spontanen Demos und zu Gruppenbildungen, die alle rigoros aufgelöst wurden.
Und schließlich der 9. Oktober. Das Friedensgebet fand erstmals in den drei innerstädtischen evangelischen Kirchen statt, neben der Nikolaikirche auch in der Thomaskirche und in der Reformierten Kirche am Tröndlinring. Alle Kirchen waren überfüllt, viele Leipziger verharrten auf den Plätzen vor den Kirchen. Zeitgleich wurde in allen Kirchen ein Aufruf des ev. Landesbischofs Hempel zur Besonnenheit verlesen. Unmittelbar nach Ende des Friedensgebets wurde ein Appell von sechs Leipziger Persönlichkeiten über den Stadtfunk von Kurt Masur verlesen. Darin wurde zum Dialog, zur Meinungsfreiheit und zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Ja und dann vereinigten sich die Teilnehmer aller Friedensgebete mit den unzähligen Menschen vor den Kirchen und der großen Menge auf dem Karl-Marx-Platz (Augustusplatz) zum Demonstrationszug von 70.000 Menschen Richtung Hauptbahnhof und über den Ring. Es war friedlich. Es blieb gewaltlos. Es war und ist ein Wunder!
Die Friedensgebete blieben Woche für Woche der Ausgangspunkt für nun immer größer werdende
Demonstrationszüge. Am 16. Oktober waren es schon 150.000, eine Woche später dann 250.000 und am 30. Oktober 89 schließlich 300.000 Demonstranten. Nicht nur in Leipzig, auch in vielen anderen Städten der gesamten DDR gab es regelmäßige Demonstrationen, meistens montags und häufig nach den Friedensgebeten vor Ort. Schön war, dass so viele Christen und viele Gemeindemitglieder bei allen Demonstrationen mittendrin waren. Das Wunder nahm nun wortwörtlich seinen Lauf.
Unsere katholische Propsteikirche, damals mit dem Standort am Rosental, öffnete erstmals am 23. Oktober zum Friedensgebet und blieb bis Anfang 1990 beständiger Kirchort für die Friedensgebete. Immer war die Kirche überfüllt. Die Teilnehmer saßen in den Gängen und um die Altarstufen auf dem Boden, ebenso dicht gedrängt auf den Treppen zur Empore. Gemeindegruppen gestalteten mit Texten, Gebeten und Liedern die Friedensgebete. Die Kirchen waren jetzt auch die Orte, in denen vielfältigste Informationen zu den ersten Anfängen von gesellschaftlichen Veränderungen und für Aufforderungen zur Mitwirkung weitergegeben wurden. Zum Schluss wurde immer das Lied „Komm Herr segne uns...“ lautstark und inbrünstig gesungen. Mit dieser Bitte im Herzen und mit dieser Melodie auf den Lippen zogen alle Kirchenbesucher zum Ring, um sich den Montagszügen anzuschließen. Jedes Mal waren sie, wie alle Demoteilnehmer, erleichtert, froh und überaus dankbar diesen Weg zu gehen.
Ein Gemeindemitglied
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